Zeit ist relativ
Lucius war spät, doch das war ihm nicht wichtig. Er hatte es nicht eilig, zu den ersten zu gehören, die den Turm betraten. Er wohnte in einem der äußersten der 152 Ringe, die rund um den Turm der Wissenschaften gebaut waren. In jedem sieben Meter breiten Segment seines Ringes war eine Wohnung auf drei Etagen errichtet. Nur von der obersten Etage jeder Wohnung hatte man einen Blick nach draußen über das Dach des nächstgelegen inneren Ringes auf den Turm. Lucius hatte wie viele seiner Kollegen ganz am Anfang des Studiums die zugrunde liegenden Metriken der gesamten Anlage untersucht. Sie wirkte wie aus einem Stück gegossen. So wusste er, dass es Platz für mindestens 313.056 Wohnungen wie seine gab, jede 7 Meter breit und 7 Meter tief, also ein umbautes Volumen von 147 Kubikmetern pro Wohnung. Der Garten war noch einmal 14 Meter tief und aufgrund der sich nach innen verjüngenden Kreissegmente unterschiedlich groß. Je weiter man nach innen wohnte, desto fokussierter blickte man deshalb auf den Turm. Der äußerste Ring hatte einen Durchmesser von exakt 7.777 Metern, der innerste 1.435 Meter. So hatten selbst die begehrtesten Wohnungen ganz innen noch einen Abstand von 777 Metern vom Turm. Die reale Anzahl der Wohnungen war nur ungefähr bekannt. Zwar kannte man die Zahl der bewohnten Wohnungen im innersten Kreis sehr genau, es waren genau 637. Doch je weiter man nach Außen kam, desto weniger ließ sich sicher sagen, dass alle bewohnt waren. Lucius wusste allerdings aufgrund von Stichproben, die er selbst gemacht hatte, dass im äußersten Ring nachweislich nicht alle 3.482 Segmente bewohnt waren. Im Laufe seiner ersten siebzehn Jahre in der Siedlung fand er zudem heraus, dass es doppelte und dreifache Wohnungen gab, die also jeweils zwei oder drei Wohnsegmente umfassten. In diesen wohnte jedoch nicht wirklich jemand, sondern sie standen für Gruppen zur Verfügung, die sich treffen wollten zum gemeinsamen studieren oder feiern oder was auch immer. Es war nicht auszuschließen, dass es auch andere Bebauungsformen gab, die vielleicht ohne Garten auskamen oder noch mehr Segmente umfassten. Die meisten Studenten stellten an diesem Punkt ihre spielerischen Nachforschungen ein, denn kein Leben war lang genug, um die ganze Anlage einmal komplett zu besuchen, zumal Einladungen in Einzelwohnungen oder Treffen in größeren Einheiten höchstens wöchentlich stattfanden. Es gab zudem vor allem in den äußeren zwei Dritteln der Ringe viele Umzüge. Ein Hinweis gegen größere Wohneinheiten oder Treffpunkte an der Oberfläche war die Verteilung der Zusammenkünfte. Denn die wirklich geräumigen Treffpunkte waren unterirdisch angelegt. Sie waren thematisch definiert und dort ließen die Zustände es zu, den Emotionen jede Freiheit, die notwendig war, zu geben.