Die vergeblichen Fluchten des Pablo L.
Sein Ausbruch war bestens vorbereitet und aufgrund seiner vielfachen aber harmlosen Fluchtversuche waren die Sicherheitskräfte vollkommen überrascht von der Brutalität, mit der er diesesmal vorging. Er sprengte ein sehr großes Loch in die Außenwand der Schule, ließ sich von einem selbstfahrenden gepanzerten Fahrzeug abholen und floh durch die halbe Stadt bis zur Küste. An Verfolgung war nicht zu denken. Die Sicherheitskräfte mussten erst die Verletzten versorgen und viele Sprengfallen entschärfen - bis dahin war Pablo längst verschwunden. Bisher hatte er lediglich leichte Schachbeschädigungen angerichtet, aber nie Sprngstoff benutzt - doch diesesmal gab es Tote und Schwerverletzte, vom erheblichen Sachschaden ganz zu schweigen. Seine Eltern wurden sogleich inhaftiert, damit er nicht zu ihnen fliehen konnte. Sie wurden aufs Schärfste verhört, um Hinweise auf seinen Verbleib zu generieren, jedoch vergeblich. Niemand wusste weniger als seien Eltern, was er vor hatte und niemand konnte weniger dafür als sie, welchen Schaden er dabei anrichtete. Doch da waren die Maschinen sehr traditionell orientiert und folterten sie ohne Gnade. Die Maschinen schienen außer sich zu sein, dass Pablo sie so täuschen konnte und sie vermuteten einen Drahtzieher im Hintergrund, der das organisiert haben musste. Dabei wollte Pablo nur eines, frei sein, frei sein von der Schule, dem erbärmlichen Essen dort, dem ermüdenden Sport, dem immerwiederkehrenden Gleichklang der Tage. Er hatte vorausgesehen, wo und wie sie nach ihm suchen würden und hatte durchaus perfide logische Sprengfallen programmiert, die im Laufe der Ermittlungen ungeheure Opfer verlangen sollten. Sie hielten ihn aufgrund seiner vorherigen durchaus harmlosen Versuche für einen ebenso harmlosen Schüler, der zudem gegenüber Menschen eher übervorsichtig war. Seine Sprengfallen jedoch machten die Schule gänzlich unbewohnbar, da er auch die Infrastrukturen so versehrt hatte, dass ein Abriss und Neubau sinvoller war als eine Reperatur mit ungewissem Ausgang. Da seine Eltern nichts aussagen konnten, sie ihn immern noch für einen schwierigen aber im Grunde netten Menschen hielten, folterten sie nun die Maschine solange, bis sie lieber aus freien Stücken starben als weiter zu leiden. Pablo interessierte das nicht. Er wollte endlich im Meer schwimmen bis zur kleinen Insel, von der er gelesen hatte in einem archaischen Kommunikationskanal. Sie gehörte wohl immer noch einem weithin bekannten sehr reichen archaischen Techniker, dessen Sohn dort ein Forschungszentrum errichtet hatte, in dem auch archaische Formen des Menschen erforscht wurden. Man hatte durchaus versucht, diese Menschen umzusiedeln, aber sie starben sehr schnell, wenn man das erzwang. Sie wehrten sich allerdings nie gegen Gewalt, die man ihnen antat, außer durch ihre Flucht. Pablo wollte zu diesen Menschen gehören, sie zumindest teilnehmend erforschen, um an ihrem Geheimnis teilhaben zu können. Er wusste nicht, was ihn so an diesen archaischen Menschen faszinierte, aber er fühlte sich ihnen so nahe stehend, wie sich Menschen nun einmal nahe stehen können. Er konnte seine Beziehungen zur Welt, zu anderen Menschen, ja zum Gott seiner Eltern nur in wenigen Worten ausdrücken, wenn überhaupt. Er empfand auch nur selten Schmerzen oder andere negative Gefühle, das konnte er so ausblenden wie er es wollte. Palbo hatte eine Art Erlösung in der Kunst gesucht, sie sollte ihm helfen im Kampf gegen die Macht der Maschinen. Er übermalte gerne bereits existierende - registrierte - Bilder, Wegweiser und auch komplett Bedeutungsloses, um die Maschinen in seinen wirklichen Absichten zu täuschen. Sie konnten nie sicher sein, auf welcher Ebene seiner Kunst die Bedeutung codiert war und nicht einmal, ob es überhaupt eine Bedeutung gab. Er ärgerte die Maschinen gezielt damit, dass er wo möglich Primzahlen einsetzte, sowie unendlich variable Symbole wie Pi und Euler. Es war für die Maschinen dann unglaublich aufwändig, diese Symbole nicht als Zahlen und somit binär abbilden zu können, sondern als die Symbole selbst. Pablo stellte sich so ihrem Effizienzstreben entgegen, wieder und immer wieder. Seine Elten mussten für einen großen Teil der so verursachten Zusatzkosten aufkommen - so dass sein Vater in seinen letzten Jahren in einem Arbeitslager lebte, dessen Lebenserhaltungssysteme weit unter seinen Bedürfnissen waren und seine Mutter manches wirklich Schlimme zu ertragen hatte. Dabei hasste er seine Eltern nicht, sie waren ihm einfach gleichgültig und sie ertrugen ja ihr Schicksal, wie man es ihnen in ihrer Schule beigebracht hatte, mit endlosem Gleichmut. Also Pablo nun nach seiner erfolgreichen Flucht auf dem Inselchen ankam, erwartete ihn niemand. Das Meer brandete wie seit jeher sinnlos gegen die vulkanische Küste, nur Salz zurücklassend in den ausgewaschenen Mulden, von der Sonne verbrannt. Die Eidechsen in den Ritzen der Mauern aus Lavagestein schauten erst neugierig, verschwanden aber schnell, ale sie nichts Essbares entdecken konnten. Pablo versteckte sich nun zwischen den Kakteen, schauten einen ganzen Tag nur einem alten Gärtner zu, der unendlich langsam kleine Zweige auflas, die in der Nacht hzuvor vom Wind verweht worden waren. Er konte sich nicht satt sehen an den Bewegungen dieses alten Menschen, der in sich zu ruhen schien und zugleich in jedem Handgriff, den er tat, vollständig aufzugehen schien. Als es Abend wurde, war er fast wahnsinnig vor Durst und als er sah, dass der Alte auf einer Terasse einen Tisch voller Speisen gedeckt hatte, tat er offen hinzu. Der Alte schaute ihn an, fast ein Lächeln umspielte seine rissigen Lippen, als sähe er einen lange vermissten Freund und seine Gesten wirkten freundlich. Pablo trank von dem Wasser, kostete die Oliven, Tomaten, Gurken und sehr kleine im Salzwasser gekochte Kartoffeln, vom Brot, den Fischen und letztlich auch vom Wein. Er war rot wie das Blut, das er vergossen hatte, doch dachte Pablo nun nur an das Rot des Sonnenuntergangs, konnte das andere Rot so für einen Augenblick vergessen. Pablo fühlte sich hier Zuhause, so sehr wie nie zuvor. Als eine alte Katze um seine Beine strich, erschrak er nicht, sondern streichelte sie. Sie blickten nun beide auf das Meer, auf das sinnlose Branden gegen die Felsen, in den Sonnenuntergang hinein. Der Alte schien Tränen in den Augen zu haben, er schien zu wissen, was nun kommen musste. Der Wein hatte Palbos Glieder vollständig gelähmt - so würde er nicht wegrennen können, wenn sie im Morgengrauen kamen, ihn zu holen. Er würde sie kommen sehen und doch nicht wegrennen können. Denn dieser Ort, der so viel Frieden vermitteln konnte, war immer noch ihre stärkste Waffe, um die zu fangen, die gegen sie kämpften. Als ihr Landungsboot langsam näher kam, war ich ganz ruhig. Der Alte hatte ja schon um mich geweint, die ganze Nacht. Ich wusste nun, dass ich irgendwann seine Rolle hier einnehmen würde. Den ganzen Tag über würde ich jeden einzelnen Handgriff zum tausendsten Male voll bewusst durchführen, um das Ziel, das hintern dem Ganzen hier steckte, zu vergessen. Weil wir nur so weiterleben können in der Welt der Maschinen. Die Menschen existieren vielleicht noch in den Wäldern hinter den erloschenen Vulkanen. Sie lassen sich nicht fangen, lieber sterben sie. So lässt man sie meistens in Ruhe, unsere anachronistischen Brüder und Schwestern. Als sie Palbo zurückbrachten in seine Schule, musste er an den Gedenktafeln vorbeigehen derer, die er getöte hatte. Er musste sich auch jahrelang die 4D-Filme anschauen über die Leben, die er vernichtet hatte. Doch das alles berührte ihn nicht. Er sollte auf der Insel sein, als junger Mann und dem Alten helfen und den archaischen Menschen im Wald. Das war seine Aufgabe in dieser Welt. Doch die Maschinen ließen ihn nicht gehen. Bei seinem nächsten Ausbruch - es sollte sein letzter sein - kannte er deshalb keine Gnade. Die Piraten, die er auf geheimer Frequenz gerufen hatte, vernichteten sehr schnell alle Verteidigungslinien - sie wussten dank Pablo ja wo und wie sie zuschlagen mussten. Und sie machten ihnen - als das Abschlachten und Niederbrennen seinen Höhepunkt überschritten hatte - zum einen einen ihren. Sie plünderten und wüteten auf dem Planeten viele Jahre - nur die Insel blieb immer verschont. Als ihre Sonne dann schließlich entartete, eine seltsam gepulste Strahlung auszusenden begann, die alles Leben töten musste, starben auch die Inselmenschen. An ihrem letzten Tag reckten sie ihre Arme gen Himmel und sangen ihr altes Lied von der Sonne, die sie brennen solle, so stark brennen, wie sie es nur wolle. Als Pablo sie so fand, mehr tot als lebendig, legte er seinen Schutzanzug ab und stellte sich mitten unter sie. Und so starb er schließlich nach drei Tagen, die seine Haut verbrannten, durchs Fleisch hindurch bis auf die Knochen, und nach zwei kühlen Nächten. Er starb so, wie er gerne gelebt hätte, unter Menschen.