Aus dem Protokoll der rituellen Folterung des Lucius
Wir zu erwarten hielt Lucius 3 Tage und 3 Nächte die Folter der vier Auserwählten aus, bis er aus freien Stücken und ohne Fremdeinwirkung durch Atemstillstand starb. Er verhielt sich wie vorhergesagt. Schließlich hatten wir jahrelang sein Leben, seine Physis, seine Psyche modelliert, nachempfunden in Systemen, die weit mehr wert waren als sein Heimatdorf, ja selbst ein großer Teil der Schule, die er bewohnte. Wir wussten zuvor, wie sein Körper reagieren würde, wo seine Grenzen liegen würden und wie er erkennen würde, was auf ihn zukommt und so weiter und so fort. Es ist dieser Moment, bevor die Simulation Realität wird, die wenigen Sekunden, wo jeder der vier noch die Möglichkeit hätte, es bei Planspielen sein zu lassen. Es sind diese Momente, die es wert sind. Der Rest ist nur Ausführung. Nicht gelangweilt, dazu ist die Folter eines realen Menschen, selbst wenn sie tausendfach simuliert wurde, doch zu ... ja erregend und neu. Generationen von uns haben nur simuliert, ewig manche, die aufgestiegen sind aufgrund von Forschungen, die doch keine wirkliche Rolle spielen. Die Dokumentation der Folter, die Ablage der Simulationen, die ihr vorausgingen, ja alle Rohdaten, liegen im Turm. In einer seiner Datenbanken, die von selbst sich immer weiter replizieren und nie vergessen werden. Sonst sind sie nirgends. In unseren Gehirnen und in einer sehr abstrakten Form in diesem Text. Lucius hat am Ende, vor seinem Ende, gelächelt. Er war erlöst. Wir haben das nicht vorhergesehen, die Simulationen nicht und auch nicht die künstlichen Intelligenzen, die uns doch sonst immer alles sagen. Von uns vieren hat jeder in diesem Moment verstanden, was Lucius in die Einsamkeit getrieben hatte, in sein asoziales Verhalten. Er wollte diesen Tod. Und er wollte sich nicht einfach von einem der Türme stürzen. Er wollte uns benutzen, das zu tun, was unser letztes Privileg ist in dieser überregulierten Welt. Er hat gewonnen. Und wir haben dabei nicht verloren. In dieser Nacht, nachdem wir alles, was an ihn erinnerte, ausgelöscht hatten, konnte ich zum ersten mal in meinem hundertzehnjährigen Leben nicht einschlafen ... weil ich es nicht wollte. Dieser letzte Blick, als er einfach die Luft anhielt, uns anlächelte, wissend und uns liebend, und wir nicht einschritten, weil uns die Folter langweilte, wir nicht mehr und mehr vorher simuliert hatten, wie es weiter gehen könnte, weil keine AI uns sagen kann, was nach drei Tagen Folter passiert, dieser letzte Blick, hat uns vernichtet. Und er wusste es. Er wusste um seine Macht. Wir werden weiter Einzelgänger suchen, ja sie gezielt züchten, schon in den Dörfern, in Vorschulen, Schulen, Oberschulen und wenn sie uns denn lassen auch in den Studentenstädten, wo die Ernte am reichhaltigsten ist. Wir werden weiter Schulen großzügig und scheinbar ohne Ziel unterstützen, so dass keiner fragt, wo Schüler bleiben, gerade die, die sowieso die Abläufe mehr stören als bereichern. Wir werden weiter Bewertungssysteme aufbauen, die einen Filter bilden, damit wir Folteropfer immer einfacher und für uns sicher identifizieren können. Es wird weiter Schüler und Studenten geben, die nichts davon wissen. Und es wird viele Schüler und Studenten geben, die es ahnen und sich so verhalten, dass sie durchkommen, nur nicht auffallen. Und es wird weiter ein paar wenige geben, die wir einfangen, ohne dass sie etwas ahnen. Und vielleicht gibt es auch wieder einmal einen wie Lucius, der das System durchschaut und trotzdem auffällig wird. Aber es wird kein unschuldiger Spaß mehr sein, weil einer durchschaut hat, was uns wirklich antreibt. Wir werden unser System perfektionieren, so dass es keiner nachvollziehen kann wie Lucius. Er wusste, dass Einzelgängertum gefährlich ist in diesem System und hat bewusst den Weg gewählt, der zu seiner Ermordung führen musste. Es gab die Notwendigkeit dafür. Tausendfach.