Lucius wird Botaniker

Am Tag der Zuteilung war er trotzdem nervös, denn es war ein ganz anderer Tagesablauf als sonst. Sicher duschte er wie immer und genoss den warmen Föhn, der ihn trocknete. Er ließ ihn nach einem Meer duften, das er nie gesehen hatte, aber dessen Simulation er mochte. Das Salz prickelte auf der Haut. Wie damals, als er ohne Schutz in der Sonne saß, länger als seine Symbionten es guthießen. Seine Kleider waren neu wie jeden Morgen und sein Essen schmackhaft wie jeden Tag. Er musste sich keine Gedanken machen über Vitamine und andere Stoffe, seine Küche wusste genau, was ihm gut tat. Doch heute er ging nicht nach oben in sein Studierzimmer, um mit Hologrammen zu jonglieren und an einer Simulation zu feilen, sondern er ging in den Keller seines Hauses und stieg dort in die Transportkapsel. Aber nicht um zu einer anderen Wohnung zu gelangen, sondern um ins Zentrum zu fahren, zum Turm. Auf dem Weg dorthin stand er im Stau, da alle Studenten aus den Wohnungen weiter innen das Gleiche taten. Und solange sie nicht ausgestiegen waren und ihre Kapsel zurück gefahren in einer anderen Röhre, musste er warten. Die Roboter der Reichen trödelten absichtlich, um ihren Eigentümern einen weiteren Vorsprung zu verschaffen. Einen Vorsprung, den er nicht brauchte. Lucius wollte Botanik als Thema für seine Abschlußarbeit aus zwei Gründen. Der eine hatte mit dem sicher sehr alten Wissenschaftler zu tun, der links neben ihm gewohnt hatte. Nach seinem Tod haben die Roboter seinen Garten abgerissen, dafür mussten sie das Schutzfeld abschalten. So konnte Lucius für fast eine Stunde den wunderbar eingewachsenen Garten sehen. Die verwachsenen Bäume erzählten mit jeder Windung eine Geschichte und die Büsche hatten sehr lange Zeit gehabt, um die ideale und doch natürliche Form zu finden. Ein Könner seines Fachs hatte es ihnen erlaubt und nur behutsam eingegriffen. Doch die Roboter rissen alles heraus, rollten Klonrasen aus und schalteten den Schutzschirm wieder an. So weit draußen wohnten normalerweise nur alte Wissenschaftler, die nicht mehr zum Turm gelangen mussten. Der nächste Bewohner würde nichts wissen von der Geschichte des Ortes, nur in Lucius Erinnerung bestand sie noch. Denn Bilder konnte er nicht machen davon, das war nicht vorgesehen. Er musste sie mit echten Farben auf echtes Papier aus der Erinnerung malen. Was dieser Wissenschaftler in seinem langen Leben wohl herausgefunden hatte? Seine Recherchen liefen ins Leere, man konnte nicht einfach nach einer Wohnung und ihren Bewohnern suchen, zumal die IDs willkürlich verteilt waren. Kannte man eine, wusste man wie man hinkam, aber die Wohnung direkt daneben konnte eine ganz andere ID haben und diese wandelten sich auch noch im Laufe der Zeit. Der andere Grund, warum Lucius Botaniker werden wollte, war, dass Lucius die Realität sehr schätzte. Er wusste genau, dass sich nur ein sehr kleiner Teil der Wissenschaftler mit der realen Welt beschäftigte, der große Rest mit Simulationen und deren Optimierung, ja sie verachteten die Realität geradezu. Aber sie waren Künstler der Optimierung, oder wie sie es auch nannten, der Injektion. Sie hatten viele Werkzeuge entwickelt und perfektioniert, um Ideen in eine Simulation behutsam einzubringen: Lieder, Bücher, Filme, Fernsehen, Werbung, Gerüchte. Weniger behutsam waren manchmal für die direkt Betroffenen die Naturereignisse, Seuchen, Kriege. Ihre Verwendung galt als Zeichen für das nahende Scheitern einer Simulation. Der schwerste Eingriff war aber eine "Offenbarung", also ein Eingriff eines göttlichen Wesens, eines Charismatikers, Führers oder eines anderen Wahnsinnigen. In einer guten Simulation waren nur behutsame Eingriffe notwendig, die sich selbst trugen und verstärkten ohne über die Stränge zu schlagen. Entsprechend gab es dann nur wenige Katastrophen und die Geschichtsschreiber in diesen Simulationen wurden fast arbeitslos und beklagten ein Ende der Geschichte, die Wiederholung des Immergleichen, hatten wehmütige Erinnerungen an frühere heroischere Zeiten. Ein weiterer Grund gegen radikale Eingriffe in eine Simulation war deren ungewisser Ausgang, denn viele Effekte waren deutlich anders als geplant. Jeder Student durfte alle Maßnahmen anwenden am Anfang des Lernens und konnte so erleben, wie grausam schief dann die Simulationen liefen. Eine Zusammenfassung der Katastrophen anschauen zu müssen, heilten jeden Studenten vom Übermut. So bekam Lucius als einer der letzten Studenten seines Jahrzehnts im Turm an, fuhr mit dem Fahrstuhl ganz nach oben, betrat einen Raum, in dem ihm von einer unsichtbaren Stimme Themen genannt wurden und endlich wurde ihm ein botanisches Thema zugeteilt. Er sollte herausfinden, welche Pflanzen auf friedlichen Welten besser gedeihen als auf unfriedlichen. Der Spott seiner Mitstudenten war ihm gewiss, kaum einer hatte ein weniger ambitioniertes Thema erhalten. Seine Chancen, in den Kreis der Ewigen aufgenommen zu werden waren damit gleich Null. Zudem machten sich die anderen Studenten sofort daran, ihre Arbeit fertig zu stellen. Denn die führenden Familien und ihre Sponsoren hatten für eine Unzahl an Themen die Arbeiten schon fast fertig gestellt, so dass der Student noch am gleichen Tag mit ein paar Änderungen versehen seine Arbeit abgeben konnte, seinen Titel erhielt und damit eine Simulation beginnen konnte, die für den Rest seines Lebens der Inhalt seiner Tage sein würde. Wenn er in den Rat der Ewigen gelangte, sogar ohne Ende. Endlos.