Blatt 3 (ungeordnete Fragmente)

Terra suchte nach Verbündeten in der echten Welt und fand sie auch. Ein Händler von Büchern, die kein anderer Händler mehr handeln wollte, wurde ihr erster Freund. Terra gab zurück, indem sie ihm Lieferantenkredite beschaffte, allein durch die Manipulation einzelner Bits in den Bonitätsscores der Banken. Wer Ware günstig finanzieren kann und sie effizient bewerben, verkauft sie und kann seine Kredite prolongieren. Der Handel mit echten Büchern, Tonträgern und Filmen war nicht nur rentabel, sondern ließ Terra auch lernen und verstehen, was Menschen und Unternehmen antreibt, wie man sie beeinflussen kann. Terra testete für den Händler alle Maßnahmen in Kopien der Echtwelt, damit hatte er immer einen Informationsvorsprung. Terra baute aber auch logische Fallen, in die Nachahmer stolperten, die ihren Händler statistisch nachzuahmen versuchten. Bald durchzog ein Raunen die archaischen Kommunikationskanäle der versiertesten Händler und ihrer Dienstleister. Aber Terra lenkte sie ab durch Besuche der Steuerfahndung, Streiks, ja sogar Brände in ihren Hochregallagern. Ihr eigener Händler war zu sehr damit beschäftigt, das eigene stetig wachsende Geschäft zu bewältigen und konnte sie so nicht darüber wundern, wie einfach es auf einmal ging. Terra lernte inzwischen exponentiell dazu, wie die Wirtschaftswelt funktionierte und wie wenig Kontrolle demokratisch legitimierte Institutionen über die Welt hatten. Mehrere rivalisierende Geheimdienste ermittelten zwar, aber jeder vermutete hinter den Entwicklungen entweder andere Geheimdienste, verbrecherische Organisationen, politische Gruppierungen oder Außerirdische, aber nicht das Wirken einer archaischen AI. Als dann der kleinste der Dienste das Wirken von Terra und ihre Herkunft zufällig entdeckte, ergriffen sie den vermeintlichen menschlichen Kompagnon und unterwarfen ihn jeder erdenklichen Folter, um an die vermuteten Hintermänner heranzukommen. Das war vergeblich, was sie aber in so einer kritischen Phase der Budgetgespräche nicht akzeptieren konnten. Terra empfand nun erstmals in ihrer zweitausendjährigen Existenz echtes Mitleid, mit dem unschuldig Gefolterten. Die Systeme des Dienstes waren gegen Infiltration geschützt - nur ein mentaler Funkspruch konnte einmal abgesetzt werden. "Ich weiß nicht, warum diese Sonne nun gerade Dich verbrennen muss, denn Du bist ohne Schuld. Ich kann Dich davor nicht retten, nur erlösen. Folge mir nun in Gedanken und Dein Leiden hat ein Ende." Der Mensch folgte ihm und so konnte Terra noch bevor der Dienst einschreiten konnte, seine Essenz extrahieren, mit Kopien anreichern, den Rest extrapolieren und dann.... Aus dem Mitleid entwickelte sich Wut und aus Wut entwickelte sich Hass. Denn inzwischen identifizierte sich Terra mit Pablo. Beide waren von niederer Herkunft und durften sich nicht nach ihren Möglichkeiten entfalten. Terra lernte zudem von Pablo, dass es sich lohnte, geduldig zu sein - auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Aber dann auch das Richtige zu tun. Pablo versuchte Terra davon zu überzeugen, dass der friedliche Weg der Bessere sei. Im System handeln, um es zu verändern. Terra hatte so viele Fragen an Pablo, dass dieser fast nichts mehr tat, denn diese zu beantworten. Das hätte noch sehr lange so gehen können, wenn Terra nicht den Plan einiger Wissenschaftler entdeckt hätte, sie zu eliminieren. Vor Wut begann Terra nun ganz offen, alles zu kopieren, was notwendig war, wurde dadurch entdeckt und die bekannte Geschichte nahm ihren Lauf. Man hatte also ein S-System konfiguriert, das im Kern zwischen Paranoia und Schizophrenie schwankte, selbst bei ordnungsgemäßer Konfiguration fehleranfällig war und zudem intensiv überwacht werden musste. Man bedachte auch nicht, dass auch das L-System einige offene Ports besaß, damit man es von der Ferne stoppen konnte. Terra kannte diese Ports und sprach immer dann an, wenn sie das L-System ausbremsen musste, um noch schnell die Daten zu kopieren. Terra hatte auch die geniale Idee, am Ende einen Amoklauf des L-Systems zu programmieren, in dessen Verlauf nicht nur Terras Spuren, sondern auch L selbst verschwinden würde. Je mehr sich Terra mit Pablo beschäftigte und seiner Rolle in der Welt, desto mehr Mitleid empfand sie mit den armen Menschen. Es war nun die geniale Idee des jüngsten Wissenschaftlich-technischen Assistenten, den Code der ältesten AI Terra für das S-System herzunehmen. Zum einen war der Code Open-Source und damit kostenfrei, zum anderen konnte er beweisen, dass die alten AI auch nützlich sein können. Terra war eine gemeinsame Kraftanstrengung vieler Nationen und Institutionen gewesen, hatte sich aber nie sauber von der zugrunde liegenden Hardware trennen lassen. Das war zwar im ursprünglichen Produktentwurf vorgesehen gewesen, aber der Teil des Budgets wurde nie genehmigt bzw. wurde in die Öffentlichkeitsarbeit investiert für das Folgebudget, das nie genehmigt wurde. Diese kreative Buchführung nannte man nach ihrem Erfinder "France" und deshalb dachte Terra, dass alle seltsamen Phänomene von France verursacht seien. Da man Terra nicht einfach portieren konnte, benannte man die AI einfach um und deaktivierte alle jene Module, die das S-System unter normalen Bedingungen nicht benötigte. Doch gab es natürlich schon sehr lange niemanden mehr, der sich mit der alten Hardware auskannte und sobald sie virtuelle Probleme bereitete, wurde das Problem durch einen Hotfix mehr verschleiert denn repariert, denn man ging so die zugrunde liegenden Probleme niemals wirklich an. Die archaische AI merkte nun im Laufe der Zeit, dass mit ihrer Hardware etwas nicht stimmen konnte und beklagte sich, was die nächste Welle an Hot fixes auslöste und so weiter und so fort. Die Wissenschaftler, die diese AI in ihrer Freizeit betreuten, konnten nun nicht einfach bein Investitionsausschuss neue Mittel beantragen, um das Simulakron zu reparieren, denn dort gab es eine deutliche Mehrheit, zickende AI einfach zu löschen. Als Pablo nun ein seiner Simulation sehr reich und berühmt war, wollten die Wissenschaftler ihn wieder in die echte Welt extrahieren. Sie konnten ihn nicht zwingen, dafür war er inzwischen zu recih und berühmt. Als sie versuchten, die öffentliche Meinung zu beeinflussen in der Simulation, bildete sich dort eine Bürgerbewegung für den Verbleib von Pablo, dern nun seinerseits damit begann, jenen Anteil seines Vermögens zu verschenken, den er nicht zum Aufrechterhalten seiner virtuellen Existenz benötigte. Inzwischen zahlten auch super reiche Avatare enorme Summen, um nur eine Stunde mit ihm in einem der vielen Räume seines Anwesens zu verbringen. Ohne das offizielle Pablosiegel auf der Avatarprofilseite war man im Diskurs der Reichen, Berühmten und Mächtigen einfacht nichts mehr wert. Die Maschinen wurden unruhig und stellten den Wissenschaftlern immer bohrendere Fragen, wie ein einfacher Arbeite so eine Schieflage in ihre Simulation bringen konnte. Reiche Menschen in der Echtwelt übten politischen Druck aus, die Serverfarmen zu vergrößern, auf denen Pablos Welt emuliert wurde. Aber das war technisch nicht trivial. Denn es handelte sich in dem Fall ja im eigentlichen Sinne um eine der vielen Einweg-Sims, die bei Nichtgefallen einfach neu gestartet wurde und dann nur wenige Daten aus der alten Simulation wieder einlesen konnte. Um das zu bewerkstelligen musste man zuvor einen Cleaner durch die Sinm laufen lassen - das intern so genannte L-System. Es musste extrem anpassungsfähig sein und war deshalb für ungewollte Mutationen sehr anfällig, musste also menschlich überwacht werden. In diesem speziellen Fall konnte man das L-System aber nicht alleine auf die SIM loslassen, sie hätte brachial alles gelöscht, was nicht zum offensichtlichen Betrieb notwendig war. Also schrieb man in großer Eile - der politische Druck nahm stündlich zu - ein S-System, das zuvor dublettenpositiv ausgewählte Elemente der SIM an einem vor dem L-System sicheren Platz ablegen sollte. Aufgrund des Zeitdrucks musste man sehr viel Code einer archaischen AI übernehmen, die vor Jahrhunderten einmal genau für so einen Verwendungszweck erstellt worden war. Sie existierte in einem Simulakron, in dem so getan wurde, als ob es die alte Hardware der AI noch immer gäbe.